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Was hilft wirklich bei Adipositas?

1. Oktober 2019
Lesezeit: 5 Minuten
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«Alles lässt sich korrigieren, ausser dem ersten Eindruck». Wir Menschen machen uns bereits in den ersten Sekunden im Kontakt mit unseren Mitmenschen ein Urteil. Ohne böse Absicht stecken wir unser Gegenüber in vorgefertigte Schubladen. Wir tun dies unbewusst, aufgrund unserer persönlichen Erfahrungen, aber auch weil es in der Gesellschaft allgemeingültige Vorurteile gibt. Wie oft hat uns der erste Eindruck über einen Menschen getäuscht. Daher ist es wichtig, Vorurteile zu hinterfragen.

Die «Dicken» sind lustig und gemütlich

Immer mehr Menschen leiden an übermässigem Gewicht, der sogenannten Adipositas. Sie werden häufig sehr hart mit Vorurteilen belegt, die ihr gesamtes Leben stark beeinflussen.
Die Gesellschaft, und somit wir alle, hat gewisse Vorstellungen, welche Eigenschaften so ein Übergewichtiger hat. Dirk Bach, ein deutscher Komiker, verkörperte zum Beispiel die Rolle des lustigen Dicken. Sicher hat er damit sein Geld verdient, aber alle haben von ihm auch erwartet, dass es lustig ist, wenn man über seine Körperfülle lacht. Bis er tot war.
Ein Sepp Trütsch, ehemaliger Moderator von Volksmusiksendungen und Sänger, galt als gemütlich, solange er schwer übergewichtig war. Seit er sich entschied, zugunsten seiner Gesundheit das Gewicht deutlich zu reduzieren, hat er dieses Image im Publikum verloren. Schlimmer noch, man dichtete ihm gar die schlimmsten Krankheiten an.

Vorurteile prägen das Leben

Bereits im frühen Kindesalter müssen übergewichtige Kinder leiden. Es gibt Studien, die belegen, Sechsjährige der Silhouette eines übergewichtigen Kindes die Eigenschaften «faul, schmutzig, dumm, hässlich, betrügt und lügt» zu unterstellen. Kinder mit gleicher Intelligenz und Begabung werden in österreichischen Schulen häufig um eine ganze Schulnote schlechter bewertet, als ihre schlankeren Mitschüler.
Mit schlechteren Schulnoten und Vorurteilen belegt, bewerben sich dann diese jungen Menschen oder auch Erwachsene oft erfolglos um eine interessante Arbeitsstelle. Schwer übergewichtige Menschen haben es zudem in aller Regel schwerer, einen Partner fürs Leben zu finden.

Die Dicken sind an ihrem Gewicht selbst schuld? Nein!

«Wenn das alles so schlimm ist, dann sollen sie doch abnehmen.» Dazu bräuchte man doch nur ein wenig Disziplin und Wille, aber das hätten sie ja nicht – so das gängige Vorurteil.
Dieser Aussage muss man vehement widersprechen. Erkenntnisse in der modernen Medizin, insbesondere der letzten Jahre, lassen diese ungerechten Vorurteile nicht mehr zu. Schwergewichtige haben auch gleich viel Intelligenz, Willenskraft und Fleiss wie Normalgewichtige.

Adipöse Menschen fühlen sich in aller Regel nicht wirklich wohl in ihrer Haut. Sie kämpfen mit unzähligen Diäten gegen ihr Gewicht und die Vorurteile, die mit ihrer Körperfülle einhergehen. Die Werbung unterstützt ihren Wunsch nach einer besseren Figur mit Wunderpillen, Diäten und Sport.
Tatsächlich gelingt es Schwergewichtigen manchmal, mit bestimmten Diäten und Sport ihr Gewicht dauerhaft zu reduzieren, daher sind diese Massnahmen unbedingt zu unterstützen. Es sind dies aber nur ca. 3-4 Prozent. Verschwiegen wird in den angeblich «wissenschaftlichen» Erfolgsnachweisen zu den meisten Diäten der häufig im Anschluss eintretende JoJo-Effekt. Nach etwa fünf Jahren ist das Gewicht im Durchschnitt sogar noch höher als vor der Diät.
Wenn dann nach vielen vergeblichen Versuchen zur Gewichtsreduktion bei einem adipösen Menschen eine Phase eintritt, in der ihm das Gewicht egal wird, fühlen sich die «Schlanken» in ihrem Vorurteil bestätigt.

Warum haben wir unser Körpergewicht nur mit 7 kg +/- selbst im Griff?

Unser Körpergewicht wird durch eine innere Uhr bestimmt – die Hormone. Für die Hormone sind unsere Gene ausschlaggebend und welche der vielen Gene tatsächlich später im Körper tätig sind, wird bereits im Mutterleib geprägt. Dies nennt man auch Epigenetik.
Die Hormone geben im Körper Signale und sagen ihm, was mit uns geschieht. Das Gehirn erkennt über Hormone, die im Darm ausgeschüttet werden, ob Nahrung angekommen ist. Das Hormon GLP-1 sagt unserem Unterbewusstsein im Gehirn beispielsweise: «Hallo, es ist Essen angekommen und ich brauche nicht mehr». Eine wichtige körperliche Reaktion, die bei adipösen Menschen fehlt. Auch viele andere Hormone, wie Ghrelin oder Leptin beeinflussen unser Essverhalten. Die Wirkung unseres Unterbewusstseins auf die Auswahl der Nahrung kennen wir und das Sprichwort «gehe nie mit hungrigem Magen einkaufen» ist allseits bekannt. Schlank sein ist also kein persönlicher Verdienst, sondern eine freundliche Fügung der Natur, für die man dankbar sein sollte.

Und was hilft nun wirklich gegen schweres Übergewicht?

Nach Ausschluss von einigen seltenen Krankheiten kann eine ganzheitliche Therapie, welche Ernährung, Bewegung und die Psyche berücksichtigt, helfen, dem Essen wieder eine andere Rolle im Leben zu geben. Hierzu sollte der Arzt befragt werden. Adipositas ist nicht ungefährlich. Viele Folgekrankheiten gehen mit schwerem Übergewicht einher wie Diabetes, Atemaussetzer beim Schlaf, Bluthochdruck, erhöhte Blutfette, Krebs, Unfruchtbarkeit und vieles andere. Wenn es zum Beispiel gelingt das Übergewicht zu reduzieren, ist zumeist auch der Diabetes heilbar.
Bisher gibt es leider noch keine Medikamente, welche die fehlerhafte Hormonreaktion des Körpers korrigieren. Bisher können nur Operationen, wie der Magenbypass oder der Magenschlauch die Hormone so verändern, dass ein Sättigungsgefühl eintritt und das Essen wieder ohne Reue Freude macht. Die einschneidenden Veränderungen nach einer Operation sind für die Betroffenen teils gewaltig, so dass sie in der Anfangsphase unbedingt ärztlich begleitet werden sollten.
Versuchen wir, unseren übergewichtigen Mitmenschen mit Verständnis und Unterstützung zu begegnen. Aus meiner Erfahrung heraus haben diese für ihre Gesundheit mehr Anstrengung unternommen als viele Normalgewichtige. Die Vorurteile sind in den allermeisten Fällen unberechtigt und verletzend.

Der Autor, Dr. med. Martin Sykora, ist Chefarzt Allgemeine und viszerale Chirurgie am Kantonsspital Nidwalden und Leiter Adipositaszentrum Zentralschweiz. In seiner langjährigen Tätigkeit hat er viele intensive Gespräche mit Adipositas-Patienten geführt und kennt ihren oft langjährigen Leidensweg gut. Der menschliche Umgang mit den Betroffenen ist ihm eine Herzensangelegenheit.

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