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Adipositas: Wie Kinder leichter leben können

Adipositas bei Kindern und Jugendlichen ist mit viel Leid verbunden. Doch die Krankheit lässt sich erfolgreich behandeln. «Aber wir messen den Erfolg nicht allein in Kilogramm. Wir wollen den Kindern den psychischen Ballast wegnehmen und einen guten Umgang mit ihrer Krankheit beibringen», sagt Dr. med. Martin Sykora, Chefarzt und Leiter des Adipositaszentrums am Luzerner Kantonsspital und Spital Nidwalden.
25. April 2023
Lesezeit: 4 Minuten
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Die gute Nachricht: In der Schweiz war der Anteil an Kindern mit Übergewicht in den letzten Jahren leicht rückläufig. Die schlechte Nachricht: Dieser Anteil ist trotzdem immer noch ziemlich hoch. Laut der Gesundheitsförderung Schweiz sind etwa 12 Prozent der Schulkinder übergewichtig, knapp 5 Prozent sind adipös – ihr Zustand gilt also als krankhaft.

«Früher galt Adipositas hauptsächlich als ästhetisches Problem. Jetzt ist sie endlich als chronische Krankheit anerkannt», sagt Nathalie Farpour-Lambert, Kinderärztin an der Hirslanden-Klinik Genf, die sich seit langem für betroffene Kinder einsetzt, unter anderem auch als Beraterin bei der Weltgesundheitsorganisation WHO.

Denn Kinder mit starkem Übergewicht leiden unter einer Vielzahl an medizinischen Problemen: zu hohem Blutdruck, Prädiabetes, Schlafapnoe, Lebererkrankungen, Rückenschmerzen und vielem mehr. Langfristig drohen Diabetes Typ 2, erhöhtes Risiko für Krebs sowie Herzerkrankungen und Schlaganfälle schon im frühen Erwachsenenalter.

Besonders schlimm ist für die betroffenen Kinder die Stigmatisierung. Sie werden oft gemobbt, haben wenig Selbstvertrauen, sind sozial schlechter integriert. Dies ist häufig mit psychischen Erkrankungen wie Depressionen, Angstzuständen und Essstörungen verbunden.

Das Umfeld mit einbeziehen

Die Ursachen für eine Erkrankung sind vielfältig. Etwa 70 bis 80 Prozent sind genetische Veranlagung, zusätzlich begünstigt das jeweilige Lebensumfeld die Entstehung der Krankheit. «Wir müssen von der Vorstellung wegkommen, dass Übergewicht selbstverschuldet ist. Es ist im Wesentlichen eine hormonelle Dysfunktion», sagt Martin Sykora, Leiter des Adipositaszentrums Zentralschweiz am Luzerner Kantonsspital.

In seiner Sprechstunde stellt sein Team deswegen für Kinder und Jugendliche mit Adipositas eine oft mehrjährige multiprofessionelle Therapie zusammen, welche die gesamte familiäre und soziale Situation mitberücksichtigt. Dazu gehören beispielsweise Ernährungsberatung, Physiotherapie und psychologische Betreuung, in Gruppen oder individuell. Die Kosten dafür übernimmt unter bestimmten Bedingungen die Krankenkasse.

Gewichtsreduktion ist nicht immer anhaltend

Allerdings: Wie Reviews der unabhängigen Cochrane-Organisation zeigen, ist die durch solche Programme erzielte Gewichtsreduktion meist moderat und nicht anhaltend. Dies bestätigt auch Sykora. «Aber wir messen den Erfolg nicht allein in Kilogramm. Wir wollen den Kindern den psychischen Ballast wegnehmen und einen guten Umgang mit ihrer Krankheit beibringen.» Ein Fortschritt sei etwa schon, wenn es in der Familie nicht mehr dauernd Stress wegen des Essens gebe.

Es gehe eher darum, die Gewichtszunahme zu verlangsamen, als das Gewicht zu reduzieren, sagt auch Farpour-Lambert. Denn die Kinder wachsen ja noch und dürfen daher auch zunehmen. Statt über den Body-Mass-Index (BMI) wird Übergewicht bei Kindern deshalb über den sogenannten BMIz definiert, der auf der Abweichung vom Bevölkerungsdurchschnitt basiert. «Während des Wachstums ist eine Gewichtszunahme von drei bis vier Kilo pro Jahr normal.» Ziel sei es, den Anstieg unterhalb dieser Spanne zu halten.

Medikamente auch für Kinder sicher

Wenn die multiprofessionelle Therapie nicht greift, ist eine Behandlung mit Liraglutid eine weitere Option. Das ursprünglich für Diabetes entwickelte Medikament ist in der Schweiz für Kinder ab zwölf Jahren zugelassen. Es imitiert ein Hormon aus dem Darm, das dem Gehirn ein Sättigungsgefühl übermittelt. «Es kann bei einigen Jugendlichen das Gewicht um 5 bis 10 Prozent reduzieren », sagt Farpour-Lambert. Noch dieses Jahr soll mit Semaglutid ein ähnliches Medikament für die Behandlung von Adipositas zugelassen werden, das noch besser wirkt. Aufgrund der langjährigen Erfahrung mit Diabetespatienten gelten diese Medikamente auch für Kinder als sicher.

Doch noch übernehmen nur einige Krankenkassen die hohen Kosten von etwa sieben Franken pro Tag. Und dies auch bei Erfolg nur für maximal drei Jahre. Laut Sykora ist das nicht sinnvoll: «Sobald das Medikament abgesetzt wird, steigt das Gewicht wieder auf den ursprünglichen Wert.» Genau wie auch der Blutdruck ohne einen Blutdrucksenker wieder nach oben springt.

In schweren Fällen ist eine Operation möglich

Unter bestimmten strengen Voraussetzungen dürfen Jugendliche ab dreizehn Jahren in der Schweiz auch operiert werden – dafür muss unter anderem das Wachstum abgeschlossen, der BMI grösser als 35 und andere Therapien mindestens zwei Jahre erfolglos sein. Sykora hat in den vergangenen sechs Jahren etwa dreissig sogenannte Sleeve-Reduktionen bei Jugendlichen durchgeführt, bei denen der Magen um etwa zwei Drittel verkleinert wird. Er hat damit gute Erfahrungen gemacht: «Das ist heutzutage nicht risikoreicher als das Entfernen einer Gallenblase.» Und die signifikante und dauerhafte Gewichtsabnahme von im Schnitt 40 Prozent sei für die Jugendlichen lebensverändernd. Allerdings müssen sie lebenslang zusätzliche Vitamine und Mineralstoffe einnehmen.

Farpour-Lambert sieht chirurgische Eingriffe etwas skeptischer: «Es gibt immer ein geringes Risiko für Komplikationen wie Infektionen und Blutungen.» Auch bilden sich beim Abnehmen grosse Hautfalten, die möglicherweise wegoperiert werden müssen.
Am besten ist es also, wenn es erst gar nicht so weit kommt. Farpour-Lambert rät allen Eltern, im Zweifelsfall bei der Kinderärztin abklären zu lassen, ob ihr Kind übergewichtig ist. Denn je jünger das Kind, desto erfolgreicher die multiprofessionelle Therapie –ganz ohne Medikamente und Operationen.
 

Der Beitrag erschien am 23. April 2023 in der «NZZ am Sonntag»

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